Dauerbrenner Arbeitszeit

Nach dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) hatte sich im September diesen Jahres auch das Bundesarbeitsgericht (BAG) zur Arbeitszeiterfassung geäußert. Nachdem zunächst nur eine Pressemitteilung des BAG veröffentlicht wurde,  liegt nun auch der Beschluss im Volltext vor. Was vordergründig als Erfolg für die Arbeitgeber erschien (die Anträge des Betriebsrats hat das BAG zurückgewiesen), erweist sich als Pyrrhussieg. Aber warum?

Das BAG hat in seinem vielbeachteten Beschluss (BAG, v. 13.9.2022, 1 ABR 22/21) entschieden, dass Arbeitgeber verpflichtet sind, Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit der Arbeitnehmer[1] zu erfassen. Hintergrund des Verfahrens vor dem BAG war, dass ein Betriebsrat eines Gemeinschaftsbetriebs feststellen lassen wollte, dass ihm ein Initiativrecht zur Einführung eines elektronischen Zeiterfassungssystems im Rahmen seiner Mitbestimmungsrechte gem. § 87 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) zusteht. Zur Erinnerung: hat der Betriebsrat ein erzwingbares Mitbestimmungsrecht, ist der Arbeitgeber also auf die Zustimmung des Betriebsrats zur Umsetzung einer Maßnahme angewiesen, hat er grundsätzlich auch ein Initiativrecht bezüglich der mitbestimmungspflichtigen Maßnahme. Er muss daher nicht auf ein Handeln des Arbeitgebers warten, sondern kann selbst initiativ werden.

Während das Landesarbeitsgericht dem Antrag des Betriebsrats auf Feststellung eines Initiativrechts stattgegeben hatte, verneinte das BAG ein entsprechendes Initiativrecht. Obwohl der Arbeitgeber in dieser Hinsicht obsiegte, hilft ihm das in der Praxis wenig, da das BAG in seiner Begründung ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats im Grundsatz bejahte und nur aufgrund der „zu engen“ Antragstellung, nämlich dem Antrag auf Einführung eines elektronischen Zeiterfassungssystems, den Antrag zurückwies.

Was ist bisher geschehen?

Der Entscheidung des BAG ist die „Stechuhr-Entscheidung“ des EuGH (v. 14.5.2019, C-55/18) vorangegangen, auf welche sich das BAG in seiner Argumentation auch bezieht. Anlässlich der Vorlage eines spanischen Gerichts hatte der EuGH entschieden, dass der von Arbeitgebern zu beachtende Arbeitsschutz nur gewährleistet ist, wenn Arbeitgeber die komplette Arbeitszeit (nicht nur „Überstunden“) erfassen. Nach übereinstimmender Auffassung hatte dieses Urteil keine unmittelbaren rechtlichen Folgen für das deutsche Arbeitszeitrecht, da es an einem Umsetzungsgesetz zur Arbeitszeitrichtlinie (EU- Richtlinie  2003/88/EG) im deutschen Recht fehlt.

Dies stellte sich jedoch insoweit als Trugschluss heraus, als nach Auffassung des BAG die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung bei unionsrechtskonformer Auslegung  bereits aus dem Arbeitsschutzrecht  folgt  (und nicht aus dem Arbeitszeitrecht). Das BAG stellt klar, dass nach dem klaren Wortlaut des § 16 Abs. 2 S. 1 Arbeitszeitgesetz Arbeitgeber nur zur Erfassung von „Überstunden“, also der Überschreitung der werktäglichen Arbeitszeit, verpflichtet sind. Eine unionsrechtskonforme Auslegung der Norm dahingehend, dass eine Pflicht zur Erfassung der gesamten Arbeitszeit besteht, überschreite die Wortlautgrenze.

Was sind die Kernaussagen des BAG?

  • Arbeitgeber sind gem. § 3 Abs. 2 Nr. 1 Arbeitsschutzgesetz  verpflichtet, Dauer, Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit der Arbeitnehmer zu erfassen.
  • Das System zur Arbeitszeiterfassung muss objektiv, verlässlich und zugänglich sein. Hinsichtlich der konkreten Ausgestaltung des Systems zur Arbeitszeiterfassung im Einklang mit diesen Vorgaben hat der Arbeitgeber einen weiten Gestaltungsspielraum. Die Zeiterfassung muss zum Beispiel nicht zwingend elektronisch erfolgen.
  • Darüber hinausgehende konkrete Inhalte der Arbeitszeitdokumentation sind noch nicht getroffen worden. Das BAG hat zum Beispiel in seiner Entscheidung offen gelassen, ob auch Pausenzeiten erfasst werden müssen. Hiervon ist zwar auszugehen, da nur so eine verlässliche Erfassung erreicht werden kann. Es bleibt jedoch abzuwarten, ob der Gesetzgeber seinen Gestaltungsspielraum diesbezüglich nutzt. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) hat bereits einen Vorschlag zur Anpassung des Arbeitszeitgesetzes für das erste Quartal 2023 angekündigt (siehe FAQ des BMAS zur Arbeitszeiterfassung).
  • Da sich die Erfassungspflicht unmittelbar aus dem Gesetz ergibt, besteht sie ab sofort für alle Arbeitgeber.
  • Arbeitgeber können die Zeiterfassung an ihre Arbeitnehmer delegieren. Allerdings reicht es nicht aus, das System zur Arbeitszeiterfassung den Arbeitnehmern lediglich zur Verfügung zu stellen. Es muss auch eine tatsächliche Erfassung und Aufzeichnung der Arbeitszeit durch die Arbeitnehmer stattfinden. Dies muss ebenfalls vom Arbeitgeber kontrolliert werden.
  • Dem Betriebsrat steht im Rahmen seiner Mitbestimmungsrechte nach § 87 BetrVG kein Initiativrecht hinsichtlich des „Ob“ der Einführung eines Systems zur Erfassung der Arbeitszeit zu, da diesbezüglich schon die gesetzliche Pflicht greift. Bezüglich der konkreten Ausgestaltung (also des „Wie“) des Systems besteht zwar ein umfassendes Mitbestimmungsrecht. Aus diesem folgt ein entsprechendes Initiativrecht. Der Betriebsrat kann dieses Initiativrecht allerdings nicht auf die Ausgestaltung der Zeiterfassung allein in elektronischer Form beschränken.

Was passiert bei Missachtung der Pflicht zur Zeiterfassung?

Das Arbeitsschutzgesetz sieht keine unmittelbaren Bußgelder bei Verstößen gegen die Pflicht zur Erfassung der Arbeitszeit vor. Allerdings kann die zuständige Arbeitsschutzbehörde die Einführung eines Zeiterfassungssystems anordnen, wenn der Arbeitgeber seiner Pflicht nicht nachkommt. Nach den FAQ des BMAS können bei Verstößen z.B. Nachbesserungen im Hinblick auf das Zeiterfassungssystem verlangt oder gegebenenfalls auch Bußgelder verhängt werden, deren Höhe im Einzelfall der Schwere des jeweiligen Rechtsverstoßes angepasst wird. Ob die Aufsichtsbehörden von dieser Möglichkeit auf der Grundlage der BAG Entscheidung Gebrauch machen, bleibt ebenfalls abzuwarten.

Unabhängig von drohenden Bußgeldern, ist bei Non-Compliance mit dem Arbeitsschutzgesetz mit weiteren Nachteilen zu rechnen. Es drohen atmosphärische Störungen im Betrieb und negative Publicity. Ebenso wird Compliance, insbesondere im Zusammenhang mit ESG (Bereich Arbeits- und Gesundheitsschutz), immer bedeutender.

Sind leitende Angestellte von der Pflicht umfasst?

Dies bleibt ebenfalls abzuwarten. Leitende Angestellte sind Arbeitnehmer, die teilweise spezifische Arbeitgeberaufgaben wahrnehmen und dabei einen eigenen Entscheidungsspielraum haben. Allerding ist nicht automatisch jede Führungskraft leitender Angestellter, sodass dies stets im Einzelfall zu prüfen ist. Einerseits gilt das Arbeitsschutzgesetz grundsätzlich für alle Beschäftigten. Andererseits sind leitende Angestellte von den Bestimmungen des Arbeitszeitgesetzes ausgenommen. Zudem muss das Arbeitsschutzgesetz im Einklang mit der Arbeitszeitrichtlinie (EU-Richtlinie  2003/88/EG) ausgelegt werden, welche ebenfalls Ausnahmen für leitende Angestellte vorsieht. Es ist zu hoffen, dass der Gesetzgeber auch hier Rechtssicherheit schaffen wird.

Was müssen Arbeitgeber tun, um compliant zu sein?

Obwohl derzeit keine unmittelbaren ordnungswidrigkeitsrechtlichen Sanktionen zu erwarten sind, sollte jeder Arbeitgeber schnellstmöglich ein System zur Arbeitszeiterfassung einführen, soweit ein solches noch nichtverwendet wird. Unternehmen, in denen bereits ein System zur Zeiterfassung genutzt wird, sollten überprüfen, ob es den oben genannten inhaltlichen Vorgaben der Rechtsprechung entspricht.

Delegiert der Arbeitgeber die Zeiterfassung auf seine Arbeitnehmer, muss er dafür sorgen, dass diese die gearbeiteten Zeiten auch korrekt erfassen. Hierzu sollten Arbeitgeber ihre Arbeitnehmer schriftlich auf die ordnungsgemäße Nutzung des Zeiterfassungssystems verpflichten, die Nutzung stichprobenartig kontrollieren und dies jeweils dokumentieren.

Vertrauensarbeitszeit in dem Sinne, dass sich Arbeitnehmer ihre Arbeitszeit selbstbestimmt und frei einteilen können, ist weiterhin möglich, solange eine ordnungsgemäße Aufzeichnung der Arbeitszeit sichergestellt wird.

Das BMAS möchte im ersten Quartal 2023 einen Vorschlag für die konkrete Ausgestaltung der Arbeitszeiterfassung vorlegen. Es bleibt zu hoffen, dass die offenen Fragen, insbesondere  zur Pflicht zur Erfassung von Pausenzeiten und mögliche Sanktionen gesetzlich geregelt werden. Aufgrund der bestehenden Mitbestimmungsrechte sollten Arbeitgeber aber schon jetzt aktiv auf ihre Betriebsräte zugehen.


[1] Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in dem Text das generische Maskulinum verwendet.

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Walter Born is a partner in the Frankfurt office. He advises clients on a variety of legal and business issues, with an emphasis on restructuring measures and the negotiation of reconciliation of interests and social plans, outsourcing transactions and German TUPE provisions, employee…

Walter Born is a partner in the Frankfurt office. He advises clients on a variety of legal and business issues, with an emphasis on restructuring measures and the negotiation of reconciliation of interests and social plans, outsourcing transactions and German TUPE provisions, employee data protection, dismissals (mass lay-offs) and related litigation, internal investigations, employee benefits and ERISA litigation. Walter counsels clients on employment advice, including drafting employment, managing directors’ and board members’ contracts and settlement agreements. He also has experience advising on collective labor law matters, and counsels on immigration matters, social security law, enforceability of post-contractual non-compete covenants and many other related matters. Walter Born is Managing Partner for Legal Personnel of the Frankfurt office.

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Dr. Nadine Kramer is a special counsel in Covington’s labor and employment law and executive compensation and employee benefits department. She has many years of experience in advising on labor law aspects with respect to M&A transactions, complex HR topics and reorganizations, especially…

Dr. Nadine Kramer is a special counsel in Covington’s labor and employment law and executive compensation and employee benefits department. She has many years of experience in advising on labor law aspects with respect to M&A transactions, complex HR topics and reorganizations, especially with a focus on negotiations with works councils, and a corresponding networking within the law firm as well. Furthermore, she has a great experience in drafting of social plans, evaluating of pension liabilities and managing labor law-related proceedings, especially with regard to wrongful termination litigations at all levels of seniority and management participation programs.